Das Trainingsprogramm Betzavta als Form der Vermittlung demokratischer Werte

Ein Gastbeitrag von Falko Lange, Nina Kaiser und Katrin Meier

Zwei Portraitfotos in schwarz-weiß.

Hintergrund

Jede Schule hat die Aufgabe demokratische Werte zu vermitteln. In Deutschland sind damit eigentlich auch die Berufsschulen gemeint. Aus verschiedenen Gründen waren Berufsschulen lange Zeit leider kein Thema in den letzten großen reformpädagogischen Debatten. Nun gibt es dennoch einen gewissen Konsens darüber, dass „[v]erbunden mit der Ausbildung auch der Bildungsauftrag [besteht], zur Persönlichkeitsentwicklung der Auszubildenden beizutragen. Diese sollen sich zu selbstständigen Persönlichkeiten entwickeln, die sich reflektierend und aktiv mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzen.“ (Bundesinstitut für Berufsbildung 2021, S. 5) So oder so ähnlich lautet es in unzähligen Vorworten von Artikeln, Veröffentlichungen, Lehrplänen und Bildungsplänen.

Es ist wichtig und angebracht, Schule als Ort zu begreifen, der mehr bieten kann als die Betreuung von Minderjährigen und die Verteilung von Berufschancen. Diesen Anspruch im Unterricht oder gar im Betrieb gerecht zu werden, ist eine Mammutaufgabe für jede*n Pädagog*in und gleichzeitig die Chance persönliche, individuelle Bildungsangebote für die Auszubildenden zu gestalten. Aus der Fülle von Möglichkeiten soll im Folgenden das Betzavta-Programm des Adam-Instituts aus Israel vorgestellt werden. Betzavta ist durch seinen Fokus auf Gruppenprozesse lebensnah und gut an aktuelle Themen innerhalb einer Gruppe anknüpfbar. Für Pädagog*innen kann es deshalb einen guten Anhaltspunkt bieten, das Thema demokratische Werte in die Bildungsarbeit zu integrieren. (Buchempfehlung: Maroshek-Klarman, U./ Rabi, S. (2015): Mehr als eine Demokratie. Sieben verschiedene Demokratieformen verstehen und erleben – 73 Übungen nach der „Betzavta“-Methode. In der Adaption von Susanne Ulrich, Silvia Simbeck und Florian Wenzel, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.)

Ein Hauptanliegen des Instituts ist die friedliche Lösung von Konflikten vor allem im Falle des Zusammentreffens eher gegensätzlicher Gruppen. Gemessen am Israelisch-Palästinensischen Konflikt sind die hier in Deutschland geführten Auseinandersetzungen sicherlich weniger brisant, dennoch ist dieses Prinzip auf sämtliche Konflikte und Gruppendynamiken übertragbar. Die zwei zentralen demokratischen Werte, die im Programm gestärkt werden sollen, sind Toleranz und Rationalität. Toleranz ist die Fähigkeit, die Andersartigkeit des Gegenübers zu akzeptieren. Rationalität besteht darin, die eigene Position kritisch hinterfragen zu können und nicht als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Angepasst an die Formulierungen in den Lehr- und Bildungsplänen würden wir sagen, es geht um Konflikt- und Teamfähigkeit als zentrale Elemente der demokratischen Bildung.

Damit bietet es sich tatsächlich an, sich aus dieser Richtung an das Thema Demokratie und demokratische Prozesse zu nähern. Teamarbeit und Konflikte gehören mit Sicherheit zu der Lebensweltrealität von Auszubildenden. Es gibt genügend Gelegenheiten für Dissens und Auseinandersetzung, ohne welche die Chance für das Erleben von demokratischen Prinzipien eher gering wäre. Betzavta arbeitet mit diesen Momenten und stärkt den Blick auf gruppendynamische Prozesse und die Fähigkeit, Konflikte kreativ zu lösen.

Als Betzavta-Trainer*innen arbeitet das Projekt nach drei immer wiederkehrenden Phasen, die auch für Ungeübte ein hilfreicher Leitfaden für die Reflexion von Gruppenprozessen sein können. Im ersten Schritt geht es darum, das Thema Konflikt überhaupt in das Bewusstsein zu bringen. Hier sollen vor allem diejenigen Positionen zur Sprache gebracht werden, die sonst eher unterdrückt werden und weniger Raum erfahren haben. Hilfreich sind Methoden, die möglichst viele Teilnehmer*innen zu Wort kommen lassen, wie Blitzlicht, Think-Pair-Share oder die Stumme Diskussion, bei der die Diskussionsteilnehmende lediglich per Stift auf einem großen Tischpapier ihre Positionen und Gedanken zu einem Thema aufschreiben dürfen. Das ermöglicht denen, die sonst selten zu Wort kommen eine relativ freie Plattform der Meinungsäußerung und macht verschiedene Meinungen sichtbar. Es empfiehlt sich, solche Methoden im pädagogischen Alltag anlassbezogen bewusst als Methode anzumoderieren: „Ich möchte mit euch eine stumme Diskussion durchführen, weil mir wichtig ist, dass ich die Meinung von allen sehen kann.“

Im zweiten Schritt kommt es zum Kernelement des Betzavta-Programms: Der Umwandlung eines Konflikts in ein Dilemma, die sogenannte Konflikt-Dilemma-Methode. Grob zusammengefasst liegt der Anspruch in dieser Phase darin, einen Konflikt in das Innere der Beteiligten zu bringen, die dann jeweils in sich beide Positionen als die potenziell eigene verstehen können. Ein Beispiel: Sie streiten sich mit ihrer kleinen Tochter darüber, dass sie für den Winterspaziergang keine Jacke anziehen will. Fragen Sie sich, unter welchen Umständen Sie selbst auch keine Jacke anziehen würden. Können Sie von sich sagen, dass es unmöglich für Sie wäre, ohne Jacke aus dem Haus zu gehen? Vielleicht fällt Ihnen eine Situation ein, in der Sie selbst auch schon mal ohne Jacke aus dem Haus gegangen sind, also ganz anders gehandelt haben als jetzt. In dem Moment, wo wir die Position des anderen als eine potenziell eigene Positionwahrnehmen, entsteht eine wohlwollende Haltung nicht nur gegenüber den anderen Positionen, sondern auch gegenüber den beteiligten Personen. Damit ist ein Grundstein gelegt für eine gemeinsame kreative Lösung des Problems.

Die dritte Phase legt den Fokus auf die schlussendliche Entscheidungsfindung. Im besten Fall ist nach der zweiten Phase bei den meisten Beteiligten der Wunsch geweckt, sich nicht zwischen den Positionen entscheiden zu müssen, sondern alle Positionen und die dahinter liegenden Bedarfe gleichwertig umzusetzen. Das Mantra lautet: Wir haben gemeinsam Verantwortung für die Lösung. Aus dem Überzeugungskampf von Position A gegen Position B ist die gemeinsame Suche nach etwas Drittem, etwas Neuem geworden.

Umsetzung in der Praxis

Für die praktische Umsetzung ist Betzavta vor allem als Trainingsprogramm konzipiert, in dem Gruppen über den Verlauf von Ganztagesveranstaltungen oder Projektwochen mithilfe von verschiedenen Übungen Konflikte austragen und reflektieren. Sollten Sie die Gelegenheit dafür haben, so empfiehlt sich die Planung und Konzeption mit einem/einer erfahrenen Betzavta-Trainer*in. Eine der Grundideen von Betzavta kann allerdings auch selbst im Alltag mit ihrer Klasse oder Gruppe umsetzt werden: Die intensive Reflexion von Gruppen- und Entscheidungsprozessen und des Miteinanders.

Es beginnt damit, den Prozess von Gruppenarbeiten, Entscheidungen und Konflikten in den Fokus zu rücken. Das können Sie zum Grundprinzip ihrer pädagogischen Arbeit machen. Stellen Sie den Auszubildenden bzw. den Schüler*innen zum Beispiel nach einer Gruppenarbeit bewusst die Frage, wie es denn in der Zusammenarbeit gelaufen ist. Oder lassen Sie sich erzählen, welche Streitpunkte eine Gruppe während des Erarbeitungsprozesses hatte. Eine erste Übung, in einfacher Form veranschaulicht, könnte so aussehen: Geben Sie ihrer Gruppe die Aufgabe, innerhalb von 20 Minuten ein Plakat zum Thema „Unsere Gemeinsamen Regeln“ zu gestalten. Halten Sie sich als stille*r (!) Beobachter*in zurück und geben keine weiteren Anweisungen außer den Zeitrahmen. Nach Ablauf der Zeit lassen Sie sich zunächst das angefertigte Plakat von den Schüler*innen präsentieren. Anschließend regen Sie in einer gemeinsamen Gesprächsrunde eine Reflexion an, die sich nicht auf Fragen zum Inhalt stützt, sondern den Prozess der Gruppenarbeit und die damit einhergehenden Gefühlen ins Zentrum stellt.

Den Beginn machen Sie mit der Frage: „In Bezug auf die Gruppenarbeit: Wie geht es euch im Moment?“. Lassen Sie, wenn möglich, alle zu Wort kommen. Achten Sie darauf, dass die Frage beantwortet wird. Allzu oft fangen Teilnehmer*innen hier schon an, über das Plakat und den Prozess zu sprechen. Danach erst gehen Sie mit den folgenden Fragen auf den Prozess ein: „Wer hat denn hauptsächlich gemalt?“, „Wie seid ihr zu Entscheidungen gekommen?“, „Sehen sich alle Beteiligten in dem Plakat wieder?“, „Seid ihr mit dem Ergebnis zufrieden?“, „Seid ihr mit eurer Zusammenarbeit zufrieden?“, „Wie demokratisch war eure Zusammenarbeit?“. Alle diese Fragen zielen in dieselbe Richtung: Die Zufriedenheit aller Beteiligten hängt maßgeblich von der demokratischen Qualität des Prozesses ab. Die wiederum hängt davon ab, inwiefern die zwei oben genannten Werte Toleranz und Rationalität bei den Auszubildenden verinnerlicht sind und in den Prozess mit eingebracht wurden. Toleranz und Rationalität liegen zwar nah beieinander, dennoch kann je nach Fokus in der Reflexion jeweils ein Wert fokussiert werden. Stellen Sie zum Thema Toleranz eher die Frage, was bei anderen gehört und beobachtet wurde und wie sich dies auf einen Selbst ausgewirkt hat. Für den Wert der Rationalität fragen Sie nach inneren Beweggründen für das eigene Verhalten.

Sprechen Sie mit ihrer Gruppe anschließend darüber, inwiefern diese Werte eine Rolle für ihr Berufsleben und ihren Alltag spielen, also was die Übung mit ihnen persönlich zu tun hat. Stellen Sie eine Verbindung zum Hier und Jetzt und der Lebensweltrealität der Teilnehmer*innen her. Leiten Sie den Transfer mit der Frage ein: „Hat euch diese Übung an etwas aus eurem Alltag erinnert?“

Sollten Sie sich mit dieser Form der Reflexion und Gesprächsmoderation sicher fühlen, können Sie anfangen, einzelne Übungen aus dem Buch „Mehr als eine Demokratie“ auszuwählen und durchzuführen. Seien Sie sich bewusst, dass die Reflexionsrunden sehr komplex sein können und von den Übungsleiter:innen selbst intensive Selbstreflexion und hohes Moderationsgeschick erfordern. Gehen Sie behutsam damit um und verinnerlichen Sie zunächst die Grundidee von Betzavta, bevor Sie sich in neue Gebiete begeben.

Dieser Artikel soll dazu ermutigen, sich dem Thema demokratische Werte aus dem Blickwinkel von Betzavta zu nähern und damit Ihr pädagogisches Repertoire zu erweitern. Schließlich ist das Thema Demokratie so vielfältig, dass ein ebenso vielfältiger Zugang nötig ist, um möglichst viele Auszubildenden damit zu erreichen.

 

Literatur

Bundesinstitut für Berufsbildung (2021): VIER SIND DIE ZUKUNFT. DIGITALISIERUNG. NACHHALTIGKEIT. RECHT. SICHERHEIT. Die modernisierten Standardberufsbildpositionen anerkannter Ausbildungsberufe. Verlag Barbara Budrich, Bonn.

Maroshek-Klarman, U./ Rabi, S. (2015): Mehr als eine Demokratie. Sieben verschiedene Demokratieformen verstehen und erleben – 73 Übungen nach der „Betzavta“-Methode. In der Adaption von Susanne Ulrich, Silvia Simbeck und Florian Wenzel. Verlag Bertelsmann Stiftung. Gütersloh.

 

Angaben zu den Personen: Nina Kaiser hat Soziologie und Kulturwissenschaften studiert und begleitete bei Forum B e.V. bereits zwei Projekte zur diversitätsorientierten Öffnung. In ihrer Arbeit interessiert sie sich besonders für Geschlecht und soziale Herkunft als Faktoren sozialer Ungleichheit und möchte zeigen, wie ein solidarisches Miteinander gelingen kann. Im Projekt DASgeht! unterstützt sie angehende Erzieher:innen auf ihrem Weg zu einer inklusiven Praxis der Vielfalt und Antidiskriminierung. Mit den studierten Lehramtsfächern Sport und Ethik hat sich Falko Lange einem ganzheitlichen Ansatz von Bildung verschrieben. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Zusammenhang von Lehren und Lernen im Kontext beteiligungsorientierter und inklusiver Praxis. Als Supervisor und Betzavta-Trainer verfügt Falko Lange über langjährige Erfahrung bei der Begleitung von Teams und Organisationen in Veränderungsprozessen. Katrin Meier ist Erziehungswissenschaftlerin und seit mehr als 10 Jahren im Bereich Demokratiepädagogik aktiv. Ihr liegt es sehr am Herzen, pädagogische Fachkräfte über die vielfaltssensible und beteiligungsfördernde Praxis in den Austausch zu bringen und das Netzwerk zu stärken. Als ausgebildete Mediatorin und Multiplikatorin für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bietet sie Teamberatungen, Trainings und Moderationen an.

 

Zum Projekt DASgeht!

"DAS geht! Demokratie und Antidiskriminierung in der Ausbildung sozialer Berufe" (externer Link) ist ein Modellprojekt des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in Sachsen-Anhalt. Ziel ist die Etablierung und Stärkung einer diversitätssensiblen und antidiskriminierenden Anerkennungskultur in Berufsschulen und Kindertageseinrichtungen durch demokratische Organisationsentwicklung sowie der Aufbau eines Bildungsnetzwerks, um den Transfer zwischen demokratiefördernder Praxis und Theorie zu gewährleisten.