Es wird Zeit! – Mehr Verantwortung für die Förderung von demokratischen Werten in der Berufsbildung übernehmen

Ein Gastbeitrag von Olaf Ansorge.

Demokratie ist auf Bürger*innen angewiesen, die sich in privaten, gesellschaftlichen, politischen und beruflichen Situationen für demokratische Grundwerte des Zusammenlebens einsetzen.

Demokratie lebt von Bürger*innen, die mehr als nur Qualifikationen für ihr berufliches Handeln vermittelt bekommen. Sie benötigen ein umfassendes politischen Deutungswissen, eine angemessene politisch-moralische Urteilsfähigkeit sowie eine emanzipatorische politische Gestaltungskompetenz, um eine zukunftsfähige Gesellschaft mitzugestalten (vgl. Weinbrenner 1987).

Ganz ohne Zweifel ist die Demokratie kein Selbstläufer, mehr denn je ist sie innen und außen in Gefahr. Besonders die derzeitigen fünf großen Herausforderungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind eine Bewährungsprobe für unsere Demokratie und ihre Stabilität:

  • Globale Klimaerwärmung und ihre Folgen,
  • Vertiefung der sozialen Spaltung,
  • ein weiter erstarkender Rechtspopulismus und -extremismus,
  • ein einschneidender Wandel der Arbeits- und Lebenswelt durch eine zunehmende Digitalisierung sowie
  • die Friedenssicherung in Europa und auf der Welt (vgl. Engartner / Hedtke / Zurstrassen 2021, S. 18 ff).

Gerade die zu gestaltenden Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung erfordern einen sozialen Frieden, der stark von der demokratischen Mitbestimmung aller Beteiligten und Betroffenen abhängt. Der Abbau von Arbeitsplätzen und die Umgestaltung von Arbeitsbranchen aufgrund zunehmender Digitalisierung kann durch betriebliche Mitbestimmung abgefedert werden. Welche Berufe sich wie durch die Digitalisierung verändern, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit im Einzelnen untersucht. Hier können Sie testen, inwieweit Ihr Beruf und Ihre Tätigkeit betroffen sind.

Demokratiebildung in der Berufsbildung gelingt nur, wenn sich alle Partner*innen dieser gesellschaftlichen und politischen Verantwortung bewusst sind. Chancen für mehr Demokratiebildung an berufsbildenden Schulen und in Unternehmen ergeben sich aus der gezielten Förderung von einzelnen Auszubildenden, Ausbildungsklassen und auch einer demokratischeren Gestaltung des gesamten Unternehmens.

Politische Bildung als Konzept zur Demokratieförderung

Eine Studie von Anja Besand (2014) erläutert drei Chancen, die Berufsschulen und auch Unternehmen zu hochattraktiven Orten für politische Bildung machen:

  1. Die Chance der kompetenzorientierten Vermittlung von Bildungsinhalten in komplexen Lernsituationen, die sowohl berufliche wie auch politische Anforderungen darstellen.
  2. Die heterogene Schüler*innenschaft, wodurch mit demokratiefördernden Projekten und Mitbestimmungsmöglichkeiten neue Blickwinkel auf politische Fragestellungen für sie eröffnet werden können.
  3. Berufsschüler*innen und Auszubildende, die in der Regel älter und somit potenzielle Wähler*innen, Steuerzahler*innen, Vertragspartner*innen oder Versicherungsnehmer*innen sind und damit vollumfängliche Mitglieder des politischen Gemeinwesens, die in der Regel ihre letzte Zeit in einer Bildungsinstitution verbringen.

Diese Chancen hat Peter Weinbrenner bereits 1987 gesehen. Daraus formulierte er den Anspruch einer arbeits- und berufsbezogenen politischen Bildung an beruflichen Schulen, die folgenden didaktischen Prinzipien entsprechen sollte (vgl. Weinbrenner 1987):

1. Das Prinzip der Arbeits- und Berufsorientierung: Die Auswahl von fachlichen Inhalten erfolgt vor allem ausgehend von spezifischen Arbeits- und Berufssituation der Lernenden. Hierdurch erhöht sich die Sinnhaftigkeit der Themen und damit die Motivation der Lernenden.

2. Das Prinzip der politischen Durchdringung des Fachunterrichts: Politikunterricht wird als übergreifendes Unterrichtsprinzip auch in den berufsbezogenen Fachunterricht integriert. Denn das Berufliche ist auch immer politisch und kann unter demokratischen Prinzipien beleuchtet werden.

3. Das Prinzip der Problemorientierung: Bedeutsam für den Unterricht sind politische, soziale und ökonomische Sachverhalte und Fragen, die in der Gesellschaft als defizitär gewertet und kontrovers diskutiert werden. Auch hierdurch wird die Sinnhaftigkeit der Auseinandersetzung verstärkt und der Umgang mit Kontroversität gelebt und reflektiert, eine der wichtigsten Fähigkeit in einer Demokratie.

4. Das Prinzip der Qualifikations- und Zielorientierung: In Abgrenzung zum technisch ökonomischen Qualifikationsbegriff (personenunabhängiges Fähigkeitsbündel zur Bewältigung bestimmter Arbeitsanforderungen) wird bezugnehmend auf ROBINSOHN ein Qualifikationsverständnis verfolgt, das Individuen zur Bewältigung von Lebenssituationen, vor allem von Arbeitssituationen befähigt.

5. Das Prinzip der Situationsorientierung: Lernsituationen gehen von der Lebenswelt der Lernenden aus und setzen sie in Beziehung zur sozialen Umwelt. Sie sind problem- und konfliktgeladen und sollen durch handlungsorientierte Lernarrangements zum Urteilen und Handeln anregen. Nur durch dieses Handeln im Unterricht können demokratische Kompetenzen wie politische Urteils- und Gestaltungskompetenz gefördert werden.

6. Das Prinzip der Zielgruppenorientierung: Aufgrund der großen Heterogenität an Berufsschulen muss der Unterricht entlang folgender Kriterien zielgruppenspezifisch ausgerichtet werden: Grad der Berufsnähe bzw. Konkretheit der Berufsentscheidung, Lernvoraussetzungen, Persönlichkeitsmerkmale (Alter, Geschlecht etc.) sowie grundsätzliche Einstellungen der Lernenden zu Schule und Unterricht.

7. Das Prinzip der Wert- und Normorientierung: Mehr denn je ist die Reflexion gesellschaftlicher Werte und ihres Wandels zu thematisieren, denn das Leben und Arbeiten in wertevielfältigen Demokratien ist anspruchsvoll und erst zu lernen.

8. Das Prinzip der Ganzheitlichkeit: Der Mensch wird als ganzheitliches Individuum gesehen und nicht auf seine Arbeitsmarktfunktionalität reduziert, um die Humanisierung der Arbeitswelt zu unterstützen.

9. Das Prinzip der Zukunftsorientierung: Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die soziale und natürliche Umwelt sowie die Auseinandersetzung mit Gestaltungsoptionen werden obligatorisch im Unterricht thematisiert, um die jetzt zu gestaltende Gesellschaft zu beeinflussen.

10. Das Prinzip der Historizität: Gegenwartsanalysen müssen die historische Perspektive einbeziehen und reflektieren, um ein Bewusstsein für die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse auch in Arbeitsverhältnissen zu verstehen.

11. Das Prinzip der Multiperspektivität: Das Spektrum gesellschaftlicher und politischer Positionen zu einem Problem und Sachverhalt muss im Unterricht ausgewogen dargestellt werden, gerade auch in der Unterschiedlichkeit der Interessen von Arbeitnehmer*innen (Beutelsbacher Konsens: Kontroversitätsgebot).

12. Das Prinzip der Wissenschaftsorientierung: Der Unterricht muss den Stand der Forschung spiegeln und vor allem auch die Grenzen des Wissens, zum Beispiel bei der Risikofolgeabschätzung in technischen Zusammenhängen aufzeigen.

Diese didaktischen Ziele und Inhalte sind in vielen schulischen Bildungsaufträgen auch für berufliche Schulen politisch klar definiert und zu fördern (vgl. z. B. § 2 des Niedersächsisches Schulgesetz).

Doch in beruflichen Schulen wird immer noch nicht der Anspruch der politischen Bildung als Unterrichtsprinzip umgesetzt. Häufig dominiert der starre Blick auf die Prüfungsvorbereitung für die Kammerprüfungen im Fach Wirtschafts- und Sozialkunde. Zudem sind immer noch viel zu viele Lehrkräfte fachfremd eingesetzt. Hier heißt es für beide Partner*innen der Berufsbildung, sowohl die Berufsschulen wie auch die Ausbildungsunternehmen, demokratische Verantwortung für notwendige Veränderungen vorzunehmen.

Demokratiebildung mehr Raum geben

Eine starke Demokratie benötigt starke Menschen. Die Förderung von personalen Kompetenzen wie Selbstwertgefühl, Frustrationstoleranz, Fähigkeit zum Perspektivwechsel und Konfliktfähigkeit sind Teil des Bildungsauftrages der beruflichen Schulen und der Ausbildungsordnungen der Unternehmen. Daher müssen sie zwingend einen zeitlichen Raum bekommen.

Demokratische Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Verantwortung, Toleranz, Frieden und Mitbestimmung sind von den Verantwortlichen in Schule und Betrieb vorzuleben (vgl. Anslinger 2021). Erkenntnisse des umfangreichen Bundesprogrammes „Demokratie leben“ zeigen in vielen Projekten, wie wirksam Demokratieprojekte in Schulen, Vereinen und Unternehmen sein können. Gerade in Zeiten einer sich stark verändernden Arbeits- und Berufswelt durch zunehmende Digitalisierung und Globalisierung, ist es dringend notwendig, dass auch Unternehmen hier mehr Verantwortung für die Demokratie übernehmen. Das Modellprojekt „DIVERSITY Challenge. Vielfalt neu denken“ liefert hierzu viele praktische Tipps, wie Vielfaltsgestaltung in Unternehmens- und Organisationskulturen integriert werden kann.  

Lernweg zur berufsbezogenen politischen Bildung

Der Politikdidaktiker Eberhard Jung (1993) hat einen unterrichtlichen Lernweg des Gestaltungslernen entwickelt, der die arbeits- und berufsbezogene politische Bildung besonders fokussiert und den ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Politiklehrer in verschiedenen Lernsituationen einsetze. Er eignet sich besonders, um das Thema „Ein betrieblicher Konflikt – wie setze ich meine berechtigten Interessen durch“ zu behandeln. Dieser Lernweg erfüllt viele der oben erwähnten didaktischen Prinzipien nach Weinbrenner:

  1. Schritt

Fixierung der zu bewältigenden Situation / Zielbestimmung

  • Offenlegung der Problemhaftigkeit
  • Definition des angestrebten Zieles / Zielbegründung
  • Planung der Vorgehensweise
  1. Schritt

Definition der erforderlichen Kompetenzen

  • Bestimmung der zur Zielerreichung erforderlichen individuellen Lernziele
  • Bestimmung der zur Zielerreichung systemischen Veränderungsziele
  1. Schritt

Vereinbarung über methodische Vorgehensweise(n)

  • Offenlegung und Diskussion verschiedener Möglichkeiten (unter Optimierung handlungsorientierter Sequenzen)
  1. Schritt

Prozess der Kompetenzvermittlung

  • Vermittlung von Einstellungen, Erkenntnissen (Funktionswissen, Strukturwissen, Partizipationswissen und Kontrollbewusstsein)
  • Einübung von Handlungsweisen unter Optimierung von Methoden des Erfahrungslernens
  1. Schritt

Bewertung / Wichtung / Relativierung

  • Kritische Reflexion des Bildungssprozesses
  • Verdeutlichung der Unterschiede zu realen Arbeitssituationen
  • Verdeutlichung des exemplarischen Charakters

 

Abb 1: Jung, E.(1993): Eine Methode zur Gestaltung von Lebens- und Arbeitssituationen. In: Mickel, W. W.; Zitzlaff, D. (Hg.), Methodenvielfalt im politischen Unterricht, Hannover: Merkur Verlag , S. 126 ff.

Die Tabelle (Abb. 2, s. unten) „Welche Kompetenzen sollte ich zur Bewältigung des Konflikts erwerben?" stellt eine beispielhafte Vorgehensweise in der Lernsituation „Durchsetzung berechtigter Interessen während der Berufsausbildung" dar. Hier werden die Schüler*innen in einen konkreten betrieblichen Konflikt eingebunden, der auf konkreten unterschiedlichen Arbeitssituationen aus dem DGB Beratungsforum „Dr. Azubi“ basiert.

Das ist nur ein konkretes Beispiel von vielen arbeits- und berufsbezogenen Lernsituationen, die im Rahmen demokratischen und politischen Lernens eingesetzt werden können. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in der Publikation „Auch das Berufliche ist politisch“ verschiedene Unterrichtsmaterialien zu dem Themenbereich herausgegeben. Im Selbstlernkurs „Citizenchip Education MOOC“ für Lehrkräfte des Instituts für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover werden Ziele, Inhalte und Methoden der Demokratiebildung sinnvoll gelehrt.

Somit beende ich meine Ausführungen mit Aussagen Lothar Roos (vgl. 1981, S. 75) zur Notwendigkeit einer Demokratiebildung im Allgemeinen: „Mit den Grundwerten der Demokratie verhält es sich wie mit dem Wasser, das wir trinken oder Luft, die wir atmen: Beide sind absolut notwendig. Aber solange wir sie einfach zur Verfügung haben, vergessen wir leicht, was sie wirklich wert sind. Erst wenn das Wasser knapp und die Luft verschmutzt ist, werden wir auf die Lebensgüter aufmerksam.“

 

Angaben zur Person: Olaf Ansorge ist Fachleiter für Politik am Studienseminar LbS Göttingen, Politiklehrer an den BBS 1 Northeim – Europaschule, Dozent am Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover im Fernstudienangebot für das Unterrichtsfach Politik an Berufsbildenden Schulen und Vertreter des Studienseminars im Netzwerk Werkstatt Zukunftsschule des Niedersächsischen Kultusministeriums.

 

Literatur:

Anslinger, E. (2021): Mehr als „nur“ reden – Mitbestimmung in Beruflichen Schulen und Betrieb, Gastbeitrag in der Magazinausgabe 2021/3 der Fachstelle Fachpersonal des Kompetenznetzwerkes Demokratieförderung in der Berufsbildung, https://demokratiefoerderung.gelbehand.de/magazin/beitrag/mehr-als-nur-reden-mitbestimmung-in-beruflichen-schulen-und-betrieb (Zugriff 1.4.2022)

Besand, A. (2014): Monitor Politische Bildung an beruflichen Schulen. Probleme und Perspektiven. Schwalbach: Wochenschau Verlag (Reihe Politik und Bildung; Bd. 75)

Engartner,T./ Hedtke, R./ Zurstrassen, B. (2021): Sozialwissenschaftliche Bildung – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. UTB-Band-Nr. 5396

Jung, E. (1993): Politische Bildung in Arbeit und Beruf: die Gestaltung von Arbeits- und Lebenssituationen, Europäische Hochschulschriften Reihe 11, Band 554. Frankfurt: Peter Lang Verlag

Jung, E. (1993): Eine Methode zur Gestaltung von Lebens- und Arbeitssituationen. In: Mickel, W. W.; Zitzlaff, D. (Hg.): Methodenvielfalt im politischen Unterricht, Hannover: Metzler Verlag, S. 126 ff

Reinhardt, S. (2018): Politikdidaktik – Handbuch, Sekundarstufe I+II, 7. Überarbeitete Neuauflage. Berlin: Cornelsen Verlag

Roos; L. (1981): Die Grundwerte der Demokratie und die Verantwortung der Christen, aus der Reihe: Dresdner Kathedralvorträge, Band 1, Verlag: Aktion Katholischer Christen im Bistum Dresden-Meißen, S. 75–96

Weinbrenner, P. (1987): Berufsarbeit und politische Bildung, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Politische Bildung an Berufsschulen. Bonn, Schriftenreihe Band 242, S. 11-38

 

Weiterführende Links:

www.demokratie-leben.de/magazin/magazin-details/wie-koennen-ausbildende-und-lehrkraefte-demokratiefoerderung-und-demokratiebildung-betreiben-105 (Zugriff: 23.3.22)

https://www.bpb.de/shop/materialien/themen-und-materialien/142398/auch-das-berufliche-ist-politisch/ (Zugriff 28.3.22)

https://job-futuromat.iab.de/ (Zugriff: 28.3.22)

https://www.oncampus.de/mooc/citizenedu (Zugriff: 28.3.22)

 

 

Abb. 2: Welche Kompetenzen sollte ich zur Bewältigung des Konflikts erwerben?, Olaf Ansorge (Bildvergrößerung durch Anklicken)