Mehr als „nur" reden – Mitbestimmung in Beruflichen Schulen und Betrieb

Ein Gastbeitrag von Dr. Eva Anslinger.

Die jüngsten gesellschaftspolitischen Entwicklungen zeigen deutlich, dass demokratische Grundrechte und -werte keine Selbstverständlichkeit darstellen und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Zum erlernen dieser Prozesse eignen sich im Kontext der Beruflichen Bildung die Lernorte Berufliche Schule und Betrieb als „demokratiepädagogische Räume“, in denen demokratische Grundwerte erlebt, ausgehandelt und eingeübt werden können. Voraussetzung hierfür ist, dass diese selbst Orte demokratische Mitbestimmung und Partizipation darstellen.

Blickt man auf die demokratische Mitbestimmungskultur bzw. auf die Partizipationsstrukturen in Beruflichen Schulen sind diese allerdings eher eingeschränkt. Dies ist der oft geringen Anwesenheit der Auszubildenden des dualen Systems in den Beruflichen Schulen geschuldet  und die damit zusammenhängende geringe Identifikationsmöglichkeit der Schüler*innen mit ihrer Schule. Untersuchungen zeigen (vgl. Helsper et al. 2001), dass Berufsschüler*innen die Mitbestimmungsstrukturen an Beruflichen Schulen als eher unattraktiv empfinden und - in ihrer Wahrnehmung - die Schülerselbstverwaltung entweder durch die Schulleitung instrumentalisiert werde, oder Vorschläge seitens der Schülerschaft unberücksichtigt bleiben. Beide Szenarien tragen nicht dazu bei, sich als Auszubildende aktiv einzubringen und damit zur Demokratisierung von Berufsschulstrukturen beizutragen. Wenn man also Mitbestimmungsstrukturen in den Beruflichen Schulen stärken möchte, so die Schlussfolgerung, so sollte a) die Partizipation an realen Problemen und somit an der Lebenswelt der Schüler*innen ansetzen und b) es sollte etwas substantiell mitzuentscheiden geben.

Dass der Betrieb für  Auszubildende per se kein demokratischer Ort darstellt und Mitbestimmungsmöglichkeiten durch die Arbeitnehmer*innen immer wieder hart erstritten werden müssen, ist keine neue Erkenntnis. Aber auch für Auszubildende halten Betriebe Strukturen vor, um Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrzunehmen, sei es in der Jugend- und Auszubildendenvertretung und/oder als Mitglied einer Gewerkschaft. Gleichzeitig zeigt eine Studie von Besand (2014, 122 ff.) die Vorbehalte von Berufsschulen und Betrieben gegenüber gewerkschaftlichem Engagement. Mitunter müsse die Teilnahme an (gewerkschaftlicher) politischer (Jugend-)Bildungsarbeit bspw. in Form von Bildungszeiten (Bildungsurlaub) oder Seminaren gerichtlich mit dem Arbeitgeber ausgefochten werden, sofern sie überhaupt den Auszubildenden bekannt sind. Dies bestätigt auch die Quote der Inanspruchnahme von Bildungszeiten, die im niedrigen einstelligen Bereich liegt (16. Kinder- und Jugendbericht 2020, S. 263). In Bayern und Sachsen gibt es nach wie vor kein Gesetz zur Regelung von Bildungsurlauben.  

Betrachtet man den Themenkomplex betrieblich Mitbestimmung in der Ausbildung gehört auch zur Wahrheit, dass fast die Hälfte aller Auszubildender, nämlich 42 Prozent, in Kleinst- und Kleinbetrieben bis 49 Mitarbeitende tätig sind, die häufig nicht von Jugend- und Auszubildendenvertretungen partizipieren können, denn erst ab fünf jugendlichen Beschäftigten in einem Betrieb können Ausbildungsvertretungen gewählt werden. In kleinbetrieblichen Strukturen sind die Auszubildenden deshalb meist auf sich selbst gestellt, so dass betriebliche Mitbestimmungsrechte nicht wahrgenommen werden (können). In dem Beratungs- und Mediationsprojekt „Ausbildung bleib dran“ der Universität Bremen, das Auszubildende bei drohenden Ausbildungsabbrüchen seit mehr als 20 Jahren berät ist zu beobachten, dass Auszubildende sich erst für ihrer Rechte im Betrieb interessieren, wenn sie entweder unzufrieden mit der Ausbildungssituation sind und/oder - und dies geht oft miteinander einher - sie Defizite in der betrieblichen Ausbildungsqualität wahrnehmen oder direkte bzw. indirekte Diskriminierungserfahrungen aufgrund von ethnischen Hintergründen, Geschlecht oder aufgrund von sozialer Diskriminierung erfahren. Oft werden Auszubildende erst dann aktiv, wenn die Probleme den Ausbildungserfolg stark gefährden bzw. der Handlungsdruck zu stark wird, also eine direkte Betroffenheit besteht. Die unabhängige Beratung unterstützt die Auszubildenden in der Wahrnehmung ihrer Rechte mit Hilfe eines breiten Expert*innen-Netzwerks. Etablierte Mitbestimmungsstrukturen in den Lernorten der Beruflichen Bildung könnten Auszubildende ebenfalls in der Wahrnehmung ihrer Rechten und Pflichten unterstützen. Hierzu eigenen sich beispielsweise Peer-to-Peer-Ansätze, bei denen die Beratung und Unterstützung unter den Auszubildenden stattfindet (vgl. https://www.dgb-bildungswerk.de/jugendbildung/die-fachstelle-peer-peer-ansaetze Zugriff 22.11.2021).   

Beteiligung und Mitbestimmung ist für Auszubildende dann interessant, wenn es die eigene Lebenswelt berührt und die Möglichkeit besteht, diese im eigenen Sinne zu gestalten. Will man Beteiligung an den Lernorten Berufliche Schule und Betrieb stärken, sollte dieses konzeptionell berücksichtigt werden. 

Eignen sich Lernorte der Beruflichen Bildung als demokratiepädagogische Räume?

Dieser Themenkomplex ist bislang nicht ausreichend erforscht, dennoch können einige Studien angeführt werden, die Berufliche Bildung und politisches Lernen zum Gegenstand haben. Eine bereits erwähnte Studie von Besand (2014) nennt bspw. drei Chancen, die Berufsschulen zu einem „hochattraktiven Ort für politische Bildung“ machen:

  1. Die kompetenzorientierte Vermittlung von Bildungsinhalten in komplexen Lernsituationen.
  2. Die heterogene Schülerschaft, wodurch mit demokratiefördernden Projekten und Mitbestimmungsmöglichkeiten neue Blickwinkel auf politische Fragestellungen eröffnet werden können.
  3. Berufsschüler*innen und Auszubildende sind in der Regel älter und somit potenzielle Wähler*innen, Steuerzahler*innen, Vertragspartner*innen oder Versicherungsnehmer*innen und damit vollumfängliche Mitglieder des politischen Gemeinwesens.

Damit werden einerseits zentrale motivationale Aspekte berührt, wie erfahrungsorientiertes- oder interessenbasiertes Lernen, um die Zielgruppe für das Einüben demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten an den Lernorten der Beruflichen Bildung zu gewinnen. Andererseits besteht die Gefahr, das demokratiepädagogische Lernanlässe für politische und ökonomische Zwecke missbraucht werden (vgl. Barp 2019), um eigene Interessen zu verfolgen oder um potenzielle Käuferschichten zu erreichen.

Der Politikunterricht an Beruflichen Schulen ist in der Regel an den Wirtschafts- und Sozialkunde-Abschlussprüfungen der zuständigen Kammern ausgerichtet, bei denen rechtliches und ökonomisches Faktenwissen abgefragt wird. Einerseits legitimiert  das Vorhandensein dieser Prüfungen in allen dualen Ausbildungsgängen den Politikunterricht an Beruflichen Schulen, andrerseits bleibt jedoch die Chance ungenutzt, diesen im Sinne einer Demokratiebildung weiter auszugestalten. Betrachtet man die Stundenausstattung im Fach Politik (bzw. Politische Bildung, Sozialkunde oder Gemeinschaftskunde) so variiert diese in den Bundesländern erheblich zwischen 80 Stunden über drei Jahre in Sachsen bis zu 240 Stunden in Nordrhein-Westfalen. So ziehen die Lehrkräfte meist ökonomische und rechtliche Fragestellungen zu Ungunsten von demokratiebildenden Inhalten oder Mitbestimmungsrechten vor, da dies einfacher zu integrieren ist und zudem Prüfungsrelevant ist. Es bleibt fest zu halten, dass der Politikunterricht einerseits die Chance eröffnen, die Zielgruppe für demokratisches Lernen und Mitbestimmungsmöglichkeiten zu sensibilisieren, anderseits bliebt diese Möglichkeit oft ungenutzt, da die Potenziale der Lehrpläne und Ausbildungsordnungen nicht ausgeschöpft werden.

Im Rahmen einer Kleinststudie im Projekt Politisches Lernen in der Ausbildung (PodA) konnte zudem exemplarisch festgestellt werden, dass Ausbilder*innen politische Themen im Ausbildungsalltag oft vermeiden, da der Betrieb kein Ort politischer Meinungsäußerung sei. Nach dem Motto: Das Politische ist privat und soll dort auch bleiben. Vor dem Hintergrund, dass Lehrkräfte Beruflicher Schulen davon berichten, dass bei einigen Auszubildenden extremistische Tendenzen jeglicher Couleur zu beobachten sowie Intoleranz und Mobbing an der Tagesordnung seien, ist es vorstellbar, dass Ausbilder*innen aber auch Lehrkräfte die offene Konfrontation mit politischen Themen meiden und keine Konzepte vorliegen, wie mit Äußerungen dieser Art pädagogisch umzugehen sei. Hier sehe ich dringenden Fortbildungsbedarf auf Seiten von Lehrkräften als auch bei den Ausbildenden. Die Robert-Bosch-Stiftung fördert bspw. das Projekt „Starke Lehrer – Starke Schüler“ das Lehrkräfte an Beruflichen Schulen im Umgang mit Rechtextremismus unterstützt. Die Ansätze des Kompetenznetzwerks „Demokratieförderung in der beruflichen Bildung" sind in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Empfehlung (vgl. https://www.dgb-bildungswerk.de/jugendbildung/das-kompetenznetzwerk-demokratiefoerderung-der-beruflichen-bildung Zugriff: 22.11.2021).

Auch sind nur selten - und dann meist in großbetrieblichen Strukturen - demokratiebildende Fort- und Weiterbildungen für Auszubildende oder auch für Ausbilder:innen vorgesehen. Hier wäre eine intensive Zusammenarbeit von Betrieben mit „Demokratiebildungs-Profis“ z.B. aus gewerkschaftlichen Bildungsstätten oder Bildungsträger der Kinder- und Jugendhilfe sicherlich wünschenswert.

Was ist zu tun und wo kann ich mich informieren?

Fragestellungen und Lernanlässe demokratischer Mitbestimmung in den Curricula der beruflichen Bildung dürfen nicht im Schatten ökonomischer und rechtlicher Themen versinken, sondern bedürfen aktiver Beteiligung der Auszubildenden. Um dies zu gewährleisten sind einerseits die Lernorte selbst als Orte demokratische Mitbestimmung zu reformulieren und strukturell anzupassen. Anderseits sind die Möglichkeiten von Lehrplänen und Ausbildungsordnungen auszuschöpfen und im Sinne demokratiebildender Lernanlässe zu begreifen. Um Mitbestimmung in der Beruflichen Bildung weiter zu stärken sind Kooperationen zwischen Beruflichen Schulen sowie Betrieben und außerschulischen Bildungsanbietern denkbar: z.B. durch Fortbildungen im Bereich der Schülerselbstverwaltung aber auch in betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen, in denen eine aktive Beteiligung in demokratischen Lernorten erlebt werden kann. Hierzu kann bereits vorhandenes Material aus der gewerkschaftlichen Jugendarbeit herangezogen werden. Dennoch plädiere ich dafür, institutionenunabhängige Materialen weiter zu entwickeln und bereit zu stellen, um  mögliche einseitige Absichten unterschiedlicher Interessengruppen auszuschließen.

 

Angaben zu Person: Dr. Eva Anslinger ist stellvertretende Direktorin am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen.

 

Literatur:

Barp, C. (2019): Digitalisierung als Thema im berufsbildenden Politikunterricht – oder: Zur Bedeutsamkeit politischer Bildung in der dualen Ausbildung. 20. Hochschultage Berufliche Bildung an der Universität Siegen

Besand, A. (2014): Monitor Politische Bildung an beruflichen Schulen. Probleme und Perspektiven. Schwalbach: Wochenschau Verlag (Reihe Politik und Bildung; Bd. 75)

Deutscher Bundestag (2020): Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. 16. Kinder- und Jugendbericht, 19. Wahlperiode Drucksache 19/24200.

Helsper, W./Böhme, J./Kramer, R.-T./Lingkost, A. (2001): Schulkultur und Schulmythos. Gymnasien zwischen elitärer Bildung und höherer Volksschule im Transformationsprozess. Wiesbaden