Demokratieferne Berufsschullernende? Ein Plädoyer für einen Perspektivwechsel

Ein Gastbeitrag von Dr. Franziska Wittau

Berufsschullernende: (k)eine apolitische und antidemokratische Zielgruppe?!

Lernenden an berufsbildenden Schulen wird vielfach nachgesagt, dass sie unpolitischere und auch antidemokratischere Einstellungen vertreten als gleichaltrige Lernende an allgemeinbildenden Schulen. Empirische Studien weisen tatsächlich in diese Richtung: Neben einem geringeren politischen Interesse besteht auch eine geringere politische Handlungsbereitschaft von Berufsschullernenden (Achour & Wagner 2019, S. 108ff.)[1]. Auch ist die Tendenz zur Befürwortung antidemokratischer Einstellungen vor allem im beruflichen Übergangssystem größer (ebd., S. 122 ff.), rechtspopulistische bis hin zu rechtsextremistischen Einstellungen gelten dort als zentrale Herausforderung (Besand 2014, S. 113 ff.). Auch wenn berufsbildende Schulen im Schwerpunkt von denjenigen Lernenden besucht werden, die als wenig politikaffine und demokratiedistanzierte Sozialgruppen eingestuft werden, wird hier zu einer Differenzierung der Daten angemahnt. Denn erstens unterscheiden sich die politischen Einstellungsmuster der Lernenden innerhalb der einzelnen Bildungsgänge stark voneinander. So finden sich bspw. im beruflichen Gymnasium oder im Bereich Wirtschaft und Verwaltung Lernende mit politischen Einstellungs- und Handlungsmustern, die denen der gymnasialen Schüler*innenschaft ähneln. Zweitens sollte zwingend auch nach den Ursachen der Distanz zu Politik und Demokratie gefragt werden.

Die zunehmende Entfremdung dieser Gruppen von Politik und Demokratie liegt auch daran, dass der Politik kaum Bedeutung für den eigenen Alltag zugeschrieben und der eigene Einfluss auf die Politik als vernachlässigbar gering eingeschätzt wird. Dieses Gefühl der fehlenden politischen Berücksichtigung der eigenen Interessen und Anliegen wiederum lässt sich kaum von der Hand weisen (Zurstrassen 2022a, S. 221f.). Insbesondere für den Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik gilt: „Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den [vergangenen 25] Jahren eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ (Elsässer, Hense & Schäfer 2017, S. 177). Da auch die Interessen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der institutionalisierten Politik eine geringe Berücksichtigung finden, ist mindestens ein Teil der Lernenden an den beruflichen Schulen gleich doppelt das Opfer dieser so genannten Repräsentationslücke (Hedtke 2021, S. 90). Die Distanz zur Politik ist aus dieser Perspektive heraus (auch) das Ergebnis der unzureichenden Berücksichtigung der eigenen Interessen und Problemlagen im politischen Betrieb.

Hinzu kommt insbesondere beim Vergleich unterschiedlicher Schulformen und ihrer Schüler*innenschaft, dass sich Berufsschullernende vielfach in vollkommen anderen Lebenslagen befinden, als Lernende der gleichen Jahrgangsstufen an Gymnasien. Der Übertritt in den Arbeitsmarkt markiert eine sozialisatorisch bedeutsame Lebensphase hin zu mehr Selbstständigkeit, verbunden mit vermehrter Eigenverantwortung. Dies wirkt sich auch auf politische Interessen und Sichtweisen aus, die stark mit den je individuellen arbeits- und lebensweltlichen Rahmenbedingungen korrespondieren.

Ein Beispiel hierfür bietet die Auseinandersetzung mit der Klimakrise, da diese die berufliche Identität vielfach adressiert – etwa in Berufen der Automobilindustrie oder dem KFZ-Handwerk. Die eigene berufliche Identität und die berufliche Zukunft können aufgrund politischer Entscheidungen sehr schnell als gefährdet wahrgenommen werden. So hat eine vergleichende Untersuchung von politischen Interessen von Auszubildenden bei VW und Opel und Fridays-for-Future-Aktivist*innen[2] belegt, dass sich beide Gruppen für ähnliche politische Kernthemen (Klimakrise, Rassismus, Bildung, Infrastruktur sowie die Armuts- und Reichtumsverteilung) interessieren, die Auszubildenden aber viel stärkere Ängste vor den strukturellen Folgen gesellschaftlicher Transformationen haben (Karg/Laßhof 2021, S. 89). Neben der Sorge um Arbeitslosigkeit nach der Ausbildung befürchten die Befragten auch schlechtere Arbeitsbedingungen (etwa durch Leih- und Kurzarbeit) sowie Auswirkungen auf das Betriebsklima (ebd.). Bleiben solche Ängste und Sorgen unberücksichtigt, kann auch dies eine zunehmende Distanzierung von der Politik fördern.

Die Rolle der politischen Bildung und Demokratiebildung in der beruflichen Bildung

Die Situation der Demokratiebildung als Teil politischer Bildung lässt sich an den Schulen des beruflichen Lernens als eine herausfordernde charakterisieren. Als wichtiger Grund hierfür lässt sich die zunehmende Ökonomisierung der beruflichen Bildung anführen. Praktischer Berufsarbeit und die Einübung in die effiziente Ausführung von Geschäfts- und Arbeitsprozessen spielen im Vergleich zu ganzheitlicher, reflexiv ausgerichteter Bildungsarbeit eine immer größere Rolle (Zurstrassen & Wittau 2017).

Für die Stellung der politisch-demokratiefördernden Bildung im Berufsschulsystem ist diese Entwicklung wenig förderlich – schließlich ist es das (zumindest vielfach wahrgenommene) Kernziel der beruflichen Bildung, auf die praxisbezogenen Abschlussprüfungen vorzubereiten (sog. „Kammerprüfungssyndrom“, vgl. Zurstrassen 2022b, S. 25) bzw. im Übergangssystem Ausbildungsfähigkeit herzustellen. Was hingegen vielfach fehlt, ist die Auseinandersetzung mit den politisch-demokratischen Zusammenhängen des Beruflichen bzw. den Zusammenhängen von Demokratie und Arbeit[3]. Die mangelnde Berücksichtigung dieser für Berufsschullernende zentralen Zusammenhänge führt zu einer Reproduktion demokratischer Repräsentationslücken in der beruflichen politischen Bildung (zum Problem sozial ungleicher politischer Bildung insgesamt: Zurstrassen 2022a).

Arbeitsweltliche Demokratieförderung in der beruflichen Bildung

Eine fair gestaltete Arbeitswelt ist eine entscheidende Scharnierstelle für das Gelingen des Ideals einer demokratischen Partizipation (Honneth 2022). Zahlreiche arbeitsweltliche Bedingungen genügen diesen Ansprüchen jedoch nicht. Zwar kann die berufliche Bildung die Probleme und Herausforderungen unfairer Arbeitsbedingungen nicht unmittelbar beheben. Dies gilt insbesondere, wenn es um ökonomische/finanzielle und zeitliche Ausgestaltungen von Arbeit geht. Sehr wohl aber kann berufliche Bildung die folgenden weiteren arbeitsweltlichen Voraussetzungen demokratischer Teilhabe (ebd., 15ff.) adressieren:

  • Psychologische Ebene: Um die Stimme politisch überhaupt zu erheben, bedarf es eines Mindestmaßes an Selbstwertgefühl und Selbstachtung. Je niedriger die Position von Menschen in der Hierarchie der gesellschaftlichen und betrieblichen Arbeitsteilung ist, desto schwerer wird es ihnen fallen, sich als zur Teilhabe berechtigt wahrzunehmen (Müller 2016).
  • Soziale Ebene: Demokratische Partizipation ist eine soziale Praxis, die nicht selbstläufig funktioniert, sondern der Einübung bedarf. Arbeitswelt kann als „Laboratorium“ hierfür dienen, wenn sie Möglichkeit zur Mitgestaltung bietet.
  • Mentale Ebene: Die politisch-demokratische Praxis ist vielfach intellektuell anspruchsvoll. Ganzheitlich fordernde Arbeit kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, sich diesen Ansprüchen zu stellen: „Je eintöniger, intellektuell anspruchsloser und repetitiver die Arbeit ist, die jemand zu verrichten hat, desto eingeschränkter ist nach den Ergebnissen [psychologischer und soziologischer] Untersuchungen dessen Fähigkeit, aus eigener Kraft Initiativen zur Veränderung seiner Lebenslage und seiner gesellschaftlichen Umwelt zu ergreifen.“ (Honneth 2022, S. 19)

Die psychologischen, sozialen und mentalen Voraussetzungen demokratischer Teilhabe lassen sich auch in Bildungsprozessen adressieren. In politisch-demokratischen Bildungsprozessen können den Lernenden Selbstwirksamkeitserfahrungen auch dann ermöglicht werden, wenn sie ihnen im Betrieb verwehrt bleiben. So gibt es beispielsweise im Handwerk Auszubildende, die vielfach kaum berufsspezifische Aufgaben übernehmen, etwa wenn KFZ-Mechatroniker*innen vorwiegend Autos oder die Werkstatt putzen, statt Autos zu reparieren oder zu warten[4]. Aufgrund der hierarchisch strukturierten Situation der Ausbildung fällt es diesen Lernenden oftmals schwer, am Ausbildungsplatz Veränderungen zu erwirken. Beruflich-demokratische Bildungsprozessen können solche Hierarchien zum Ausgangspunkt reflexiver Beobachtungen machen statt diese durch eine eintönige, bloß reproduktiv ausgerichtete politische Bildung zu reproduzieren. Auf diesem Weg kann die Selbstwirksamkeit der Lernenden gestärkt und Dialogbereitschaft und -fähigkeit hergestellt werden, die auch in die Arbeitswelt ausstrahlen können (sog. Spill-Over-These).

Eine kritische politisch-demokratiefördernde Bildung hat die Aufgabe, die politisch-sozialen Erfahrungen rund um die Arbeitswelt kritisch zu befragen. Das heißt auch, dass den Lernenden und ihrer Kritik an Arbeitswelt Raum gegeben werden muss – und zwar ohne, dass diese Kritik zwangsläufig in konkreten Gegenvorschlägen münden muss. Das würde der Kritik ihren kritischen Stachel ziehen (Flügel-Martinsen 2021, S. 34). Ziel der kritischen Demokratiebildung ist demnach nicht die Anpassungsbereitschaft an das bestehende System, sondern die Befähigung dazu, unbequeme Fragen zu stellen. Hierzu sollte die berufliche Bildung ihre Lernenden systematisch ermutigen.

 

Angaben zur Person: Dr. Franziska Wittau ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Arbeitsbereich Didaktik der Sozialwissenschaften. Sie arbeitet zu den Themenschwerpunkten Politische Bildung und Ungleichheit, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Politische Bildung in der Digitalität.

 

Literatur:

Achour, Sabine/Wagner, Sabine (2019): Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen. Bestandsaufnahme, Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Besand, Anja (2014): Monitor politische Bildung an beruflichen Schulen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Elsässer, Lea/ Hense, Svenja/ Schäfer, Armin (2017): „Dem Deutschen Volke“? Die ungleiche Responsivität des Bundestags. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27 (2), S. 161-180.

Flügel-Martinsen, Oliver (2021): Kritik der Gegenwart. Politische Theorie als kritische Zeitdiagnose. Bielefeld, Transcript.

Karg, Luca/Laßhof, Maurice (2021): Hat die Jugend eine Stimme? Fridays for Future und Auszubildende im Krisenklima. In: GWP 70 (1), 84-98.

Kohl, Wiebke/Calmbach, Marc (2012): Unsichtbares Politikprogramm? Lebenswelten und politisches Interesse von 'bildungsfernen' Jugendlichen. In: Widmaier, Benedikt/ Nonnenmacher, Frank (Hrsg.): Unter erschwerten Bedingungen. Politische Bildung mit bildungsfernen Zielgruppen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 17-26.

Hedtke, Reinhold (2021): Demokratie stabilisieren und Bürger*innen stärken – zwei Seiten derselben Medaille? In: PraxisForschungLehrer*innenBildung 3 (3), 85-102.

Honneth, Axel (2022): Demokratie und Arbeit. Einige vorbereitenden Überlegungen. In: Journal für Politische Bildung 4/2022, S. 12-19.

Müller, Hans-Peter (2016): Politisches Feld und politische Repräsentation. In: Diehl, Paula/ Steilen, Felix (Hrsg.): Politische Repräsentation und das Symbolisch. Historische, politische und soziologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS, 85-106.

Sommer, Moritz et al. (2019): Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland (=Ipb working Paper 2/2019). Berlin: ipb.

Zurstrassen, Bettina (2022a): Politische Bildung, soziale Ungleichheit und Partizipation. Politische Bildung im Interesse bildungsdiskriminierter Kinder und Jugendlicher. In: Wohnig, Alexander/ Zorn, Peter (Hrsg.): Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung. Bonn: BpB, 219-231.

Zurstrassen, Bettina (2022b): Viele Herausforderungen, desolate Lage. Politische Bildung an berufsbildenden Schulen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 72 (48), 22-28.

Zurstrassen, Bettina/ Wittau, Franziska (2017). Lebenswelt und Arbeitswelt - lebensweltliche Bezüge in der Berufsbildung. In Oeftering, Tonio/ Oppermann, Julia/ Fischer, Andreas (Hrsg.): Der "fachdidaktische Code" der Lebenswelt- und/oder Situationsorientierung. Fachdidaktische Zugänge zu sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfächern sowie zum Lernfeldkonzept. Hohengehren: Schneider Verlag, 137-152.

 


[1] Vgl. hierzu auch die Shell-Studie 2019 (https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie.html)

[2] FfF ist durch eine starke, v.a. bildungsbezogene soziale Selektion geprägt. Der Großteil der Teilnehmenden stammt aus der bildungsbürgerlich geprägten, vielfach akademischen Mittelschicht (Sommer et al. 2019, S. 12f.)

[3] Interessante, für die Bildungspraxis aufgearbeitete Gegenbeispiele finden sich im TuM-Band „Auch das Berufliche ist Politisch“ der Bundeszentrale für politische Bildung (https://www.bpb.de/shop/materialien/themen-und-materialien/142398/auch-das-berufliche-ist-politisch/)

[4]www.finanzfrage.net/g/frage/kfz-ausbildung-nur-am-putzen