Demokratielernen in der Projektarbeit. Partizipation als demokratischer Gestaltungsspielraum an berufsbildenden Schulen.

Ein Gastbeitrag von Dr. Klaudia Tietze.

Berufsbildende Schulen sind Orte, in denen Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, Geschlecht, Kultur, sexueller, politischer und weltanschaulicher Orientierung und sozialem Hintergrund aufeinandertreffen und miteinander auskommen müssen. Diese Lernorte sind somit dazu prädestiniert, Positionen und Meinungen auszudiskutieren, Vielfalt und Freiheiten in ihrer gesamten Breite wahrzunehmen und im Kontext der vom Grundgesetz vorgeschriebenen Spielregeln zu bewerten. Mit anderen Worten sind berufsbildende Schulen dazu prädestiniert, Demokratieprojekte durchzuführen. Dabei handelt es sich nicht um einen „Wunsch“, sondern um eine demokratiefördernde Maßnahme, die im Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen verankert ist. Denn das Demokratielernen werde nicht nur als Teil des Fachunterrichts in den Schulgesetzen definiert, sondern solle sich in allen Bereichen des Schullebens widerspiegeln.[1] 2009 beschloss die Kultusminister*innenkonferenz die Umsetzung eines umfassenden Maßnahmenkatalogs demokratiefördernder Maßnahmen, „um das Engagement von Lehr- und Fachkräften sowie von Schüler*innen für eine demokratische Entwicklung in der Schule und in der Gesellschaft mehr noch als bisher zu stärken.“[2]

Projektarbeit als Gestaltungsspielraum nutzen

Mit dem Beschluss stellte die Kultusminister*innenkonferenz klar, dass „die Stärkung junger Menschen in ihrem Engagement für den demokratischen Rechtsstaat und ihrem entschiedenen Eintreten gegen antidemokratische und menschenfeindliche Haltungen und Entwicklungen Aufgabe von Schul- und Unterrichtsentwicklung, von sämtlichen Fächern sowie von außerschulischen Angeboten“[3] ist. Somit wurde an dieser Stelle nicht nur die schulisch interne Projektarbeit, sondern auch die Projektarbeit mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Träger*innen als demokratiefördernde Maßnahme an Schulen aufgenommen.

Die praktische Umsetzung solcher Projektarbeit gleich ob schulisch intern oder mit externen Träger*innen erfordert das Engagement der Lehrkräfte und fördernde schulische Rahmenbedingungen. Anja Westhofen, Lehrerin an der BBS Technik Cloppenburg, gehört zu den Lehrkräften, die diesen Gestaltungsspielraum für schulisch interne Projekte ausschöpfen: „Für die Projektarbeit nutze ich gerne Begebenheiten, tagesaktuelle Themen oder „Vorfälle“ im Bereich der Schule. Anknüpfungspunkte bieten sich sehr häufig, wenn ich sie wahrnehmen möchte. Zunächst wird ein demokratieunfreundliches Verhalten thematisiert, um dann Schüler*innen auf eine Handlungsebene zu führen, die konkretes Gestalten ermöglicht. Rollenübernahmen, Zukunftsszenarien (was wäre wenn…) sensibilisieren, um den „Wert“ demokratischen und respektvollen Handelns zu erkennen. Ein Handlungsprodukt (Film, Spiel, konkrete Unterstützung einer bestimmten Organisation, Wettbewerbsbeitrag) motiviert Schüler*innen ungemein. Häufig sind Kolleg*innen bereit, etwas Zeit zur Verfügung zu stellen, um die Produkte zu erstellen.“

Frau Westhofen lehrt in ihren Projekten Demokratie als Lebensform. Demokratie als Lebensform lernen gehört zu den drei Demokratielernbereichen, die Anfang der 2000-Jahre von Prof. Gerhard Himmelmann identifiziert, als Lehrkonzept veröffentlicht und in den bereits erwähnten Maßnahmenkatalog der Kultusminister*innenkonferenz aufgenommen wurden. Demnach soll Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform gelernt werden. Demokratiebildende Maßnahmen sollen sich entsprechend nicht nur auf eine Institutionskunde reduzieren, sondern auch das demokratische Miteinander vermitteln. Demokratie als Lebensform lernen bedeute, demokratische Werte zu verstehen, zu verinnerlichen und im Leben danach zu handeln – nicht weil sie im Gesetz oder in anderen verpflichtenden Regelwerken vorgeschrieben seien, sondern weil sie sich aus der eigenen Überzeugung, der eigenen Haltung ableiten.[4] „Demokratie als Lebensform wird durch das Sammeln und Reflektieren von Erfahrungen aus Interaktionen mit anderen Menschen erlernt. Das heißt, sie setzt auf Auseinandersetzung mit Vielfalt. Demokratie zu lernen bedeutet, Entscheidungen zu treffen und Positionen zu beziehen. Ziel ist, sich selbstbestimmt entscheiden zu können.“[5] Zur Erreichung dieses Lernziels bietet die Projektarbeit in der regulären berufsschulischen Arbeit den entsprechenden Raum an. Mit der Verknüpfung der Partizipation der Schüler*innen mit dem Demokratielernen wird die zwischenmenschliche Interaktion und Kommunikation als demokratischer Gestaltungsspielraum genutzt. Die Schüler*innen lernen in der Projektarbeit das demokratische Denken und Handeln.

Handlungsempfehlungen für partizipative Projektarbeit

Die neuste Studie der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung aus dem Jahr 2022[6] beschäftigt sich mit der partizipativen Projektarbeit. Die Autor*innen untersuchten, wie Jugendliche die Projektarbeit mit externen Träger*innen wahrnehmen und welche Faktoren den Erwerb von Demokratiekompetenzen fördern können. Die Erkenntnisse lassen sich auch auf die interne schulische Projektarbeit übertragen und bestätigen an vielen Stellen die Sinnhaftigkeit der didaktischen Methoden, die Lehrkräfte in der Projektarbeit bereits jetzt schon einsetzen. Die Autor*innen der Studie formulieren sieben Handlungsempfehlungen:

  1. Vielseitige Anerkennung und Wertschätzung werden eingefordert (28): Jungen Menschen ist die Anerkennung und Wertschätzung durch die schulischen und außerschulischen Akteur:innen, aber auch durch Peers innerhalb und außerhalb des Projekts, wichtig. Handlungsempfehlungen hierfür sind die gemeinsame Auseinandersetzung mit Formen der Anerkennung, Möglichkeiten der (Selbst-)Inszenierung der Projektarbeit und systematische Phasen der Würdigung und Wertschätzung innerhalb des Projekts.
  2. Einzel- und Gruppenerfahrungen motivieren Jugendliche (28 f.): Jugendliche sehen die Qualität von Projekten in ihrer Motivation, Selbstwirksamkeit und der Dynamisierung ihres Engagements. Die Herausforderungen bestehen darin, Angebote niederschwellig zu gestalten und sie zugleich in die Lebenswelten der Jugendlichen einzubetten. Erkennen die Jugendlichen die lebenspraktische Relevanz der Projekte, dann prägen sie diese durch eigenen Input und lernen projektbezogene Skills.
  3. Klarheit über Form und Angebot der Unterstützung (29 f.): Schüler:innen schätzen, dass sie auf Augenhöhe ernst genommen werden. Um die Form und das Angebot der Unterstützung (ideell, materiell und personell) klar zu kommunizieren und vertrauensvoll mit ihren Erwartungen abzugleichen, kann z.B. ein regelmäßiger Jour fixe organisiert werden. Dort sollten die Schüler:innen „das letzte Wort” haben.
  4. Unterstützung von freien Lernräumen durch Rahmung und Empowerment (30 f.): Jugendliche gestalten jene Lernräume, die eröffnet werden, selbst aus. Sie nehmen sich als selbstwirksam wahr, wenn sie ihre eigenen politischen Themen- und Fragestellungen durch das Entwickeln ihrer Kritikfähigkeit finden und verfolgen können. Kritikphasen zu Beginn fördern hier das empowernde Lernen der eigenen Interessen.
  5. Reflektierte Erkenntnis stärkt demokratiebezogene Aktivität und Verantwortungsübernahme (31 f.): Eine eigene, reflektierte Selbsterkenntnis stellt für die Jugendlichen eine wichtige individuelle Erfahrung dar. Autonome und selbstbestimmte Reflexion braucht jedoch Zeit sowie vielfältige Projektthemen und Zugänge. So kann kooperatives Projektlernen als Persönlichkeitsstärkung aufgenommen werden.
  6. Projektoffenheit ermöglicht Entwicklung (32 f.): Wohin die gemeinsame Reise mit dem Projekt geht, sollte möglichst offen sein und gemeinsam ausgestaltet werden. Jugendlichen ist es wichtig, das Projekt als ihr eigenes zu verstehen. So entstehen eine soziale Patenschaft und ein Projekt, das von allen gemeinsam geformt wird. In diesem Rahmen können Fehler und Änderungen als Entwicklungsmöglichkeit verstanden und genutzt werden. Die begleitete, gerahmte Ergebnisoffenheit motiviert zur Mitgestaltung.
  7. Partizipation und Demokratielernen müssen verknüpft werden (33 f.): Kooperative Projekte sind durch die inhaltlichen Themen und Aufgaben, aber auch durch eine aufmerksame und partizipative Lern- und Projektkultur der Teilnehmenden, eine Gelegenheit für demokratisches Lernen. Jugendliche schätzen jene Situationen, Gelegenheiten und Beziehungen, die das Projektlernen zu Demokratielernen werden lassen und nehmen Projekte als wertvolles Kontrastprogramm zum schulischen Lernen wahr.“[7]

 

Angaben zur Person: Dr. Klaudia Tietze leitet die Fachstelle Fachpersonal im Kompetenznetzwerk „Demokratieförderung in der beruflichen Bildung“.

 


[1] Tietze, Klaudia: Demokratieförderung in der beruflichen Bildung. Ausbilder*innen und Lehrkräfte als handelnde Akteur*innen, 2022, S. 11,  https://www.gelbehand.de/fileadmin/user_upload/download/fachstelle_fachpersonal/Broschuere_Demokratiefoerderung_in_der_beruflichen_Bildung_2._Auflage.pdf, Zugriff am 21.11.2022.

[2] Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018, S. 6, https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf

[3] Ebd.

[4] Vgl. Tietze, Klaudia: Demokratieförderung in der beruflichen Bildung. Ausbilder*innen und Lehrkräfte als handelnde Akteur*innen, Kompetenznetzwerk „Demokratieförderung in der beruflichen Bildung“, 2022, S. 6, www.gelbehand.de/fileadmin/user_upload/download/fachstelle_fachpersonal/Broschuere_Demokratiefoerderung_in_der_beruflichen_Bildung_2._Auflage.pdf, Zugriff am 21.11.2022.

[5] Ebd.

[6] Beutel, Silvia-Iris/ Gloe, Markus/ Torrau, Sören/ Beyer, Johanna / Güzel, Elif/ Schumpich, Hans Falko: Zur Erhellung des „vermuteten Raums” Qualitätsmerkmale Kooperativer Demokratiebildung aus Sicht von Schüler*innen: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung GmbH, 2022, https://www.openion.de/files/Redaktion/News_und_Events/Begleitstudie/Abschlussbericht_Zur%20Erhellung%20des%20vermuteten%20Raums.pdf, Zugriff am 21.11.2022.

[7] Zusammenfassung: Zur Erhellung des „vermuteten Raums”, Kompetenznetzwerk Demokratieförderung im Jugendalter, 2022, S. 2, https://www.openion.de/files/Redaktion/News_und_Events/Begleitstudie/Zusammenfassung_Zur%20Erhellung%20des%20vermuteten%20Raums.pdf, Zugriff am 21.11.2022.