„Die Einübung demokratischer Prozesse gehört eigentlich in jeden Lehrplan, nicht nur an Berufsschulen!“

Ein Gespräch mit Christoph Wesemann über Zugänge zu Partizipation und Mitbestimmung in der berufsschulischen Bildung

Inwiefern werden Partizipation und Mitbestimmung an Berufsschulen thematisiert?

An allen Schulen und auch an Berufsschulen gibt es die Möglichkeit der Mitbestimmung innerhalb der schulischen Prozesse. Hierzu haben die Klassen- bzw. Kurssprecher*innen die Chance ihre Anliegen z.B. in der Schulkonferenz einzubringen. Auch hier müssen dann (wie in der „großen Politik“) Mehrheiten gebildet werden, um erfolgreich eigene Ideen umzusetzen. Diese „Einübung“ demokratischer Prozesse fängt mit der Wahl des*der Klassensprecher*in an.

Der verbindliche Politikunterricht an Berufsschulen sollte das Fachwissen über demokratische Prozesse in unserer Gesellschafft vermitteln. Diese werden dann auch in verschiedenen Entscheidungen im Schulleben erprobt, z.B.: Wohin geht die Klassenfahrt? Was machen wir am letzten Schultag? Je nach Situation kann dies auch im inhaltlichen Bereich der Unterrichtsfächer erprobt werden bei Fragestellungen wie: Was machen wir zuerst: Thema A oder B?

Der Beteiligungsausschluss und die ungleichen Zugänge zu Partizipationsmöglichkeiten sind vor allem eine Herausforderung migrantisierter Personen. Wie wird diese Herausforderung im berufsschulischen Kontext aufgegriffen?

Eine Herausforderung? Im konkreten Unterricht sind doch alle Schüler*innen gleich! Nein, leider nicht! Es sollte nicht zwischen migrantischen und nicht migrantischen Schüler*innen unterschieden werden. Allerdings haben migrantisierte Menschen Erfahrungen gemacht, die sie zurückhaltender werden lassen und sie sich selber Mitbestimmung nicht zutrauen. Hier kann (und muss) die Berufsschule motivierend und unterstützend sein. Wie oben beschrieben, sind bei der Einübung demokratischer Strukturen im Kurs-/Klassenverbund alle Meinungen relevant.

Die Zusammensetzung des Kollegiums spiegelt immer mehr die Vielfältigkeit innerhalb unserer Gesellschaft wider. Lehrer*innen mit „migrantischer“ Lebensgeschichte bringen sich und ihre Lebenserfahrungen natürlich auch im Bereich der Demokratieförderung im Unterricht mit ein.

Wie kann für mehr Mitbestimmung an berufsbildenden Schulen sensibilisiert werden und welche Maßnahmen lassen sich im Unterricht und/oder darüber hinaus umsetzen?

Die Einübung demokratischer Prozesse gehört eigentlich in jeden Lehrplan, nicht nur an Berufsschulen! Leider stehen oft die „Inhalte“ im Vordergrund und bestimmen das unterrichtliche Geschehen. Trotzdem können nicht nur im Politikunterricht, sondern auch in den beruflichen Schwerpunkten Akzente gesetzt werden. Dies ist zum Beispiel bei den fahrzeugtechnischen Berufen in der Auseinandersetzung mit den gewerkschaftlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten machbar. Eine starke JAV oder ein Betriebsrat zeigen die Möglichkeiten von Teilhabe am Arbeitsprozess gut auf.

Die Sensibilisierung für Wahrnehmung von undemokratischen Prozessen, die Schüler*innen erfahren, ist eine wichtige Voraussetzung für die Lehrenden. So sollten beispielsweise Diskriminierungserfahrungen, die leider immer noch auch Auszubildende erleben müssen, dann auch im Unterricht thematisiert werden. Hierfür ist natürlich auch die Schaffung einer Atmosphäre der Offenheit gegenüber den Mitschüler*innen oder auch gegenüber den Lehrer*innen eine notwendige Bedingung.

Welche Möglichkeiten haben speziell Berufsschullehrkräfte, um an berufsbildenden Schulen mehr Mitbestimmung zu realisieren?

Die eigene Haltung und die Persönlichkeit der Lehrkräfte sollte eine gute Basis darstellen, um die Mitbestimmungsmöglichkeiten im Berufsschulalltag zu vermitteln und auch vorzuleben. Die Strukturen im System Schule für die Schüler*innen dabei transparent zu machen, ist eine gute Gelegenheit, die Teilhabe an demokratischen Prozessen zu verdeutlichen.

Weiterhin können die Lehrkräfte auch in ihrem im eigenen Unterricht Gelegenheiten finden, diese Thematik zu integrieren. Dabei benötigt der offizielle Lehrplan manchmal kreative Interpretationen. Das Mitdenken der Mitbestimmung, unabhängig vor dem Hintergrund der Herkunft, eröffnen Möglichkeiten eines aktiven demokratischen Miteinanders. Lehrkräfte sollten diese Chance nutzen!

 

Angaben zur Person: Christoph Wesemann ist Lehrer für Fahrzeugtechnik am Nicolaus-August-Otto Berufskolleg in Köln. Seit über 20 Jahren engagiert er sich im Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gegen eine Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft. Seine Überzeugungen bringt er dabei in Zusammenarbeit mit Schüler*innen des dualen Bereiches sowie im Übergangssystem zur beruflichen Ausbildung ein. Das Engagement für die Umsetzung demokratischer Prozesse in der Schule ist für ihn selbstverständlich.