Verschwörungsdenken in Zeiten der Pandemie. Warum ist es wichtig, aktiv gegen Verschwörungsmythen vorzugehen?

Ein Gastbeitrag von Rolf Schleyer.

Ein Proträtfoto von Rolf Schleyer. Rolf Schleyer trägt eine schwarze Strickjacke, eine Brille mit runden Gläsern und hat kurze graue Haare. Er deutet ein Lächeln an. Sein Blick geht seitlich an der Kamera vorbei.

Die Erde ist keine Scheibe. Verkehrsflugzeuge versprühen keine Chemikalien, die uns wahlweise gefügig, unfruchtbar oder krank machen sollen. Die Bundesrepublik Deutschland ist keine GmbH. In Corona-Impfstoffen sind keine Mikrochips. Dies scheinen einfache und klare Sachverhalte zu sein und doch gibt es eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen, die diese nicht nur bezweifeln, sondern vom Gegenteil so überzeugt sind, dass sie sich gezwungen sehen, zur Tat zu schreiten. Und natürlich ist es sehr schwer, die Ruhe zu bewahren, wenn man davon überzeugt ist, dass massenhaft Kinder in unterirdischen Verliesen gefangen gehalten und gefoltert werden.

Es ist noch nicht lang her, dass Verschwörungsanhänger*innen belächelt wurden, doch die Zeiten, in denen sie als etwas skurrile Anhänger*innen absurder Ideen abgetan werden konnten, sind längst passé. Die Attentate von Halle und Hanau, der Sturm auf den Reichstag in Berlin und auf das Kapitol in den USA bestimmten wochenlang die Berichterstattung und hoben Verschwörungstheorien wie beispielsweise QAnon in das öffentliche Bewusstsein und machten die Gefahr, die von solchen Bewegungen ausgeht, deutlich.

Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen und die breite Berichterstattung in den Medien ließen schnell den Eindruck entstehen, dass sich seit Beginn der Pandemie Verschwörungstheorien auf Wachstumskurs befänden, allerdings scheint es nicht ganz so einfach zu sein: Einerseits trugen die Mythen rund um die Corona-Pandemie dazu bei, die Nutzerzahlen von Messengerdiensten wie Telegram, in denen sich völlig unkontrolliert noch die irrwitzigsten Thesen formulieren lassen, in die Höhe schnellen zu lassen (Amadeu-Antonio-Stiftung 2020). Andererseits kam die „Mitte-Studie“ schon einige Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie auf einen hohen Anteil der Bevölkerung, der zwar nicht direkt an eine der Verschwörungserzählungen glaubt, aber eine Verschwörungsmentalität aufweist (Schröter 2018/19). So glaubt fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung (45,7%) an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und ein Drittel (32,7%) stimmt der Aussage zu, dass Politiker*innen nur Marionetten dahinterstehender Mächte seien. Und über die Hälfte der Befragten teilt eine wissenschaftsfeindliche Haltung und gibt an, ihren Gefühlen mehr zu vertrauen als „sogenannten Expert:innen“ (Schröter 2018/19: 212f.). Dieser Anteil scheint sich, folgt man einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vom September 2020 in Zeiten der Corona-Pandemie nicht wesentlich verändert zu haben (Konrad-Adenauer-Stiftung 2020).

Es gibt verschiedene Merkmale – hier seien nur einige angeführt - anhand derer sich Verschwörungsmythen abgrenzen lassen von beispielsweise falschen Schlussfolgerungen oder Annahmen, die aufgrund unzureichender Informationen getroffen werden: Es gibt Schuldige, die für das Schlechte verantwortlich gemacht werden – und schuld sind immer die anderen. Es sind dunkle Mächte am Werke, die die Wahrheit vor uns zu verschleiern versuchen – aber man selbst gehört zu denjenigen, die diese Wahrheit erkannt haben. Diese dunklen Mächte nehmen dabei bewusst den Schaden anderer in Kauf, wenn sie nicht sogar versuchen, diesen Schaden absichtlich herbeizuführen.

Diese menschenfeindlichen Einstellungen können schnell in gewalttätige Handlungen umschlagen und dies macht die besondere Gefahr des Verschwörungsdenkens aus. Sie beschuldigen zu Unrecht und gefährden Menschen. Ihnen ist unbedingt entgegenzutreten und dies bleibt eine wichtige Aufgabe für die politische Bildung und zivilgesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen – und damit auch in Betrieben und allen Bereichen der Ausbildung, insbesondere natürlich den Berufsschulen, denen neben der Vermittlung von Fachwissen auch ein allgemeiner Bildungsauftrag zukommt.

Prävention – Intervention – Repression

Wie aber könnte dies konkret aussehen? Schließlich steigt durch die erhöhte mediale Aufmerksamkeit auch die Wahrscheinlichkeit in Betrieben, Berufsschulen oder in der Ausbildung auf Menschen zu treffen, die solchen Ideen anhängen – nicht zuletzt deshalb, weil öfter über dieses Thema gesprochen wird. An erster Stelle sollte selbstverständlich die Prävention, also proaktives Handeln, stehen, das Eingreifen, bevor sich eine Person in den Echokammern der sozialen Medien verfangen hat und eine Sogwirkung entsteht, die eine rationale Auseinandersetzung kaum noch möglich macht.

Diese Prävention ist am leichtesten in den Berufsschulen und im Bereich der Fort- und Weiterbildung umsetzbar: Von der Bundeszentrale und den einzelnen Landeszentralen für politische Bildung liegen mittlerweile zahlreiche Materialien, die sich für die Unterrichts- oder Seminargestaltung anbieten, vor. Viele Initiativen, Vereine und andere Institutionen bieten zum Teil langjährig erprobtes Material an, dass sich gut im Bildungsbereich verwenden lässt.

Wesentlich schwieriger ist der Umgang an unseren Arbeitsplätzen, denn hier bewegt man sich meist auf der Ebene der Intervention: Wie kann man reagieren, was kann man tun, wenn Kolleg*innen oder sogar Vorgesetzte solche Ansichten äußern? Auf der einen Seite suchen nur die Wenigsten Streit oder begeben sich freiwillig in Konflikte am Arbeitsplatz und dies umso weniger, je prekärer die eigene Situation ist. Auf der anderen Seite sollte sich Jede(r) verpflichtet fühlen, sich menschenfeindlichen Haltungen und Aussagen entgegenzustellen. Zivilcourage zu verlangen ist einfach, sie tatsächlich zu leisten oftmals sehr schwierig.

Zunächst ist es in den meisten Situationen nicht einfach, zu erkennen, ab welchem Punkt eine Intervention notwendig wird – schließlich werden die meisten Leute nicht direkt damit herausplatzen, dass sie an Verschwörungserzählungen glauben und diese verbreiten möchten (vgl. Pia / Katharina 2020: 275ff.). Erst wenn eine Situation oder ein Gesprächsinhalt von uns selbst als problematisch wahrgenommen wurde, kommt es überhaupt dazu, dass Verantwortung übernommen werden müsste. Man muss sich gezielt entscheiden, ob man einschreiten möchte oder nicht.

Im nächsten Schritt geht es darum, die eigenen Fähigkeiten zur Intervention realistisch einzuschätzen. Wer möchte schon Vorgesetzten offen widersprechen und noch dazu eventuell gar nicht genau wissen, was man eigentlich sagen soll? Anhänger*innen von Verschwörungstheorien verfügen häufig über ein großes Detailwissen, dass auf dieser Ebene schwer zu widerlegen ist. Man sollte sich also immer fragen, ob man sich der Situation psychisch – oder im schlimmsten Fall sogar physisch – gewachsen fühlt.

Erst wenn diese Punkte gegeben sind, kann man aktiv werden. Hier gilt es, sich zu fragen, wen man erreichen möchte: Geht es um die Verschwörungsgläubigen selbst oder möchte man zum Schutz von Kolleg*innen eingreifen?

Wichtig ist es auf jeden Fall, sich Hilfe zu holen und möglichst nicht allein dazustehen. Wie verhalten sich die Kolleg*innen zu den Aussagen, wie der Betriebsrat oder Vertrauensleute? Gibt es aktive Gewerkschafter*innen, die um Unterstützung gebeten werden können?

Auf der Ebene der Repression, wenn es für Intervention zu spät oder diese nicht ausreichend sein sollte, stellen sich Fragen wie:

  • Gibt es Betriebsvereinbarungen, die solche Vorfälle eigentlich unterbinden sollen? Insbesondere bei allen Aussagen, die sich um die Themenkomplexe wie Umgang mit Kolleg*innen mit Migrationshintergrund drehen, könnte unter Umständen eine solche greifen („der große Bevölkerungsaustausch“ etc.)

  • Können Geschäftsleitung oder Vorgesetzte Verbündete in der Auseinandersetzung mit Verschwörungsdenken sein? Aber gerade hier ist vorsichtiges Vorgehen äußerst wichtig – niemand möchte als unsolidarisch oder im schlimmsten Fall als Denunziant*in dastehen!

Generell gilt, dass auf keinen Fall überhastet und unüberlegt gehandelt werden sollte. Die eigene Sicherheit und die des Arbeitsplatzes muss immer als erstes bedacht werden: Anderen kann man nur effektiv helfen oder beistehen, wenn man sich nicht selbst in der Schusslinie befindet.

 

Angaben zur Person: Rolf Schleyer ist Politikwissenschaftler aus Gießen und seit 2018 Dozent am Bildungszentrum des Bundes in Wetzlar (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben).

 

Literatur:

Amadeu-Antonio-Stiftung (Hg.); de:hate report #01; Berlin, 2020

Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/medienpaedagogik/270188/spezial-zum-thema-verschwoerungstheorien (Stand: 13.04.2021)

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. (Hrsg.); Verschwörung in der Krise. Repräsentative Umfragen zum Glauben an Verschwörungstheorien vor und in der Corona-Krise; Berlin, 2020.

vgl. Lamberty, Pia / Nocun, Katharina; Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen; Köln, 20207; S. 275ff.

Landesmedienzentrum Baden-Württemberg; Verschwörungstheorien als Unterrichtsthema https://www.lmz-bw.de/medien-und bildung/jugendmedienschutz/verschwoerungstheorien/verschwoerungstheorien-als-unterrichtsthema/ (Stand: 13.04.2021)

Schröter, Franziska (Hrsg.); Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19; Bonn, 2019

So geht Medien; Gefangen in der Filterblase! So entlarvt man Verschwörungsmythen https://www.br.de/sogehtmedien/stimmt-das/wilde-theorien/un-wahrheiten-wilde-theorien-100.html (Stand: 13.04.2021)

https://www.anders-denken.info/agieren

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/themen/

https://www.kiga-berlin.org/

https://www.bs-anne-frank.de/